Freitag, 12. September 2014

Vierter Rundbrief Das Finale: Marianne ich liebe dich!

Im September 2013 war Paris für mich auch nur eine Großstadt. Eine Großstadt mit viel Prunk. Im Grunde genommen nicht bedeutender als meine Heimat und in jedem Fall, so dachte ich, würde ich nach diesem Jahr Essen nie wieder verlassen können. Die Distanz von Familie, Freunden und allem Vertrauten hatte nicht selten in mir ein Gefühl von Heimweh hervorgerufen.
Ein Jahr später amüsiere ich mich bestens mit den Franzosen beim Austausch französischer Redewendungen und den Empfehlungen über die schönsten Orte, die wir aus dem Hexagon kennen. Den Einwohnern aus Paname (Paris und Umgebung) kann ich meistens sogar deutlich mehr über ihre Region erzählen als sie selbst und sie bestätigen mich in meinem Gefühl ein richtiger Chauvin (Patriot) geworden zu sein. Wonnen der Glückseligkeit durchfließen mich bei jedem Gedanken an die Gespräche, die Wunder der Natur und der Menschenhände, die ich in diesem Jahr in Frankreich erleben durfte. Marianne, ich liebe dich!
Auch die Franzosen haben mich nicht gerne gehen lassen. Für den letzten Gottesdienst des Schuljahres hatte ich mit einer Sopranistin einen Chor formiert. Zuvor hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich jemals Erwachsene (!) Menschen auf Französisch unterrichten würde. Ich hatte mit ihnen mehrstimmige Lieder aus dem Gesangsbuch (auch zwei neue) und ein Stück von Fauré einstudiert. An dem Tag wurde ich auch offiziell verabschiedet. Ich habe eine Rede gehalten und viele passende Bücher geschenkt bekommen. Gewiss habe ich dort einen großen Fußabdruck in der Gemeinde hinterlassen, viel Größer ist aber der Eindruck, den ich aus dem Jahr mitnehmen darf. Wir hatten im Anschluss noch ein tolles gemeinsames Essen und dann gingen die Ferien los. 3 Tage bei den Freiwilligen in Montpellier und danach für fast einen Monat in die schöne Normandie auf das ereignisreiche Pfadfinderlager.
 Bevor die Jugendlichen kamen haben wir eine super entspannte und lustige Woche damit zugebracht, Klos, Duschen und Tische zu bauen und nicht zuletzt aber auch die WM Spiele zu verfolgen. Zumindest die französischen. Deutschland – Algerien habe ich im Zelt auf dem Handy verfolgen müssen. Für Frankreich – Deutschland sind wir aber zu einem richtigen Public Viewing in den Ort gefahren. Als wir im Ort ankamen, standen schon über 200 Leute auf dem Marktplatz, alle samt blau-weiß-rot farbig bekleidet. Kein Grund für mich, sich nicht mit seiner Deutschlandflagge in die erste Reihe zu setzen und seine Mannschaft anzufeuern zu bejubeln. Im Laufe des Spiels wurden meine Kollegen aber immer enttäuschter. Am Ende totale Frustration. 
Dennoch: einige Franzosen gratulierten mir. 70 Jahre nach der Besatzung des Atlantikwalls durch deutsche Panzerdivisionen und der Invasion der Alliierten am 06. Juni 1944, als die Franzosen im Viertelfinale gegen die Deutschen rausfliegen, sind sie bereit auf dem Boden grauenvoller Schlachten einem deutschen zum Sieg zu gratulieren. Auch dass ich auf der Rückfahrt im Auto mit 3 Verlierern wie wild hupen und bis zum Schluss meine Flagge aus dem Fenster wehen durfte, bevor ich sie dann bis zum Ende des Lagers an einen Mast auf dem Feld gehängt habe, zeugt von unglaublicher Toleranz und Versöhnungsbereitschaft. Das stärkste Bild von Völkerverständigung, welches ich dieses Jahr erleben durfte.

Für das Lager waren zwei Inspektoren angekündigt. Einer während Deutschland – Brasilien, der andere für das Finale.
Diese Füchse.
Tatsächlich konnte ich Deutschland – Brasilien nur zur zweiten Hälfte am Liveticker verfolgen, da ich am Abend eine Aktivität geleitet hatte. Also machte ich zur zweiten Halbzeit das Handy an und traute meinen Augen nicht. 5:0?? Was ist da passiert. Als die Jugendlichen am nächsten Morgen dann das finale Ergebnis erfahren durften, hat ein Pfadfinder aus Wut den Fahnenmast aus dem Boden gerissen. Für das Finale konnte ich aber dann doch problemlos vom Inspekteur die Erlaubnis erbitten, am Abend das Gelände verlassen zu dürfen. So lief ich 6km durch die Dörfer (Anhalter hat nicht geklappt), um dann endlich erst einen Imbiss zu finden (der leider nach der ersten Halbzeit schließen musste) und mich dann schließlich in der letzten geöffneten Bar niederzulassen. Eine Bar mit mir und der Deutschlandflagge, 3 Franzosen und 8 Argentiniern. Atmosphäre angespannt. Den Rest kennt ihr ja selber. Die Barkeeperin hat mir einen ausgegeben und ich bin jubelnd mit wedelnder Deutschlandflagge an den Landstraßen durch die Nacht stolziert.
Natürlich wäre es schöner gewesen, dieses Ereignis mit Deutschen, oder überhaupt mit jemandem feiern zu können, auf der anderen Seite konnte ich so den Sieg in die Welt hinaus tragen und die frustrierten Franzosen mit der Omnipräsenz des Weltmeisters beehren. Ansonsten ist das Lager auch weiterhin sehr gut gelaufen. Wir hatten zwar einige Autoritätsschwierigkeiten und 3 Jugendliche nach hause schicken müssen, aber auch eine sehr intensive und schöne Zeit mit den 22 Jungen und Mädchen. 
Unter dem Motto Cowboy & Indianer haben wir getobt, gebaut, gespielt, diskutiert, sind gewandert und sogar am Strand gewesen. Ich bin den Mitarbeitern sehr dankbar für die Verantwortung, die sie mir dafür überlassen haben. Neben meiner Rolle als Erste-Hilfe-Mann, durfte ich auch einige Spiele und Vorträge schreiben. Besonders für die biblischen Themen bin ich von großer Hilfe gewesen. Unser Verhältnis untereinander war wirklich hervorragend. Das hatte sich erst in dem Wochenende zuvor ergeben, als wir gemeinsam über unsere Probleme und Ziele diskutiert haben und den Rotstift in der Programmgestaltung angesetzt haben. Endlich.

Nach dem Camp bin ich selbst dann noch als Teilnehmer für eine Woche in die Alpen zu einem katholischen Kloster mit 1400 weiteren Jugendlichen gefahren. Eine Woche voller Entdeckungen des heiligen Geistes als auch des Sports und Spaßes. Ich habe es sehr genossen.

Zuletzt war ich noch eine Woche in Paris. Paris Plage, der aufgeschüttete Sand am Seine Ufer floppte aber gegen die echte Sand- und Felslandschaft im Wald von Fontainebleau.
















Nun bin ich wieder daheim. In der Stadt in der Nähe von Köln, falls dir das was sagt. Ein wundervolles Jahr ist nun zu Ende. Die schönste Zeit meines Lebens. Was habe ich auch alles erlebt. Über 15 Konzerte, über 25 Museen und Schlösser, ich habe einem hochverehrten Filmkomponisten die Hand gegeben, wurde von meinem Schulchor besucht und ich hab in dem Jahr mehr gesehen als in meinem bisherigen Leben.
Ein FSJ bietet die einmalige Möglichkeit, ohne große Verantwortungen und Verpflichtungen ein Land und sich selbst zu entdecken.
Den puren Luxus zu besitzen, mal just für einen Tag zu den Loireschlössern zu fahren und seine Bildschirmhintergründe in live zu betrachten.

Das geschätzte Privileg, die Metro als reines Transportmittel zu verstehen und sich über 5 Minutenwartezeit zu ärgern. Bloß nach Paris zu fahren, weil man Freunde besucht, einkaufen oder ins Kino gehen will. Die Freude so tief in eine Sprache eingetaucht zu sein und dadurch so viele Beziehungen geknüpft zu haben.


Ist alles jetzt vorbei? Es fängt erst an. Fest steht, dass ich anders aus diesem Jahr heraus komme, als ich herein gegangen bin. Ich war naiv und ängstlich und hätte meine Arbeit zu Beginn sicher besser machen können, als ich sie geleistet habe. Doch Wachstum braucht seine Zeit und dieses Jahr hat mir erst den Weg bereitet, auf dem ich meinen Freiwilligendienst fortsetzen will und mein Leben bestreiten kann.

Ich danke Euch allen herzlich für die Gebete und die Unterstützung. Für Eure Interesse und das offene Ohr. Danke dafür, dass Ihr mir dieses Jahr und diese Zukunft möglich gemacht habt!

Bisous,
Gabriel



Dienstag, 20. Mai 2014

Hauptstadtleben. 3. Rundbrief

Ich bin als Freiwilliger in ein westliches Nachbarland gegangen, in welchem ich eigentlich ähnliche Verhältnisse von Lebensstandard und Wirtschaft vermutet hätte, wie sie in Deutschland vorzufinden sind. Wieder zeigt sich aber einmal, dass Deutscher zu sein, ein Privileg und nicht zuletzt ein Ideal für viele Ausländer ist. In diesem Rundbrief möchte ich beispielhaft Defizite aus verschiedenen Bereichen des französischen insbesondere des Hauptstadtlebens vorstellen.
Angefangen mit der Politik. Am 23. und 30. März finden in ganz Frankreich Kommunalwahlen statt und alles ändert sich. Wie immer. Weil das Volk nicht vollkommen zufrieden mit den Bürgermeistern, besonders aber mit Hollande ist, verpassen sie ihm eine rote Karte und wählen von links auf rechts. Die Franzosen lieben die Abwechslung. In meiner Stadt Colombes ist eine Politikerin zurück ins Bürgermeisteramt gekommen, die eine Periode zuvor wegen Korruption abgewählt worden ist. Den Barabbas zu forden zeigte aber tatsächlich auf nationaler Ebene einen großen Effekt. So tritt der linke Premier Minister zurück und Manuel Valls, ein ambitionierter Mann der Rechten wird von Hollande ins Amt geholt. Dieser verspricht nun endlich konkret zu werden und mit großen Sparplänen das Land aus dem Defizit zu holen. An dieser Stelle ist mir erst bewusst geworden, das Frankreich noch in der Krise steckt. Das ist aber auch kein Wunder bei 35 Stundenwochen und Rente ab 62. Reguliert werden die Schulden durch zu enorme Unternehmens- und Reichensteuer. Letztere hat mit ihrem Anstieg auf 75% dann eine großere Abwanderung der Reichen ausgelöst. Mit 10,5% ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie in Deutschland, bei den Jugendlichen ist sogar jeder 4. ohne Arbeit. Viele französische Studenten versuchen daher in London ihr Glück. Das Schulleben der französischen Jugend gestaltet sich aber auch deutlich schwieriger als in Deutschland. Es gibt in der Oberstufe keine Klausuren, sondern immer wieder kurzfristig angesagte Tests. Was zählt sind allerdings die alles entscheidenden Schlussprüfungen, die in jedem (!) Fach gestellt werden (wenn auch unterschiedlich bewertet). Fächer abwählen gibt’s nicht. Eine Bekannte hat in einer Woche 6 Schlussprüfungen und die anderen drumherum, während gleichzeitig sogar noch Unterricht stattfindet. Um zur Uni angenommen zu werden, muss man ein Bac + 3 oder Bac + 5 (Abitur mit Qualifizierung zum Bachelor/Master) vorweisen und dennoch eine Aufnahmeprüfung machen. Unterricht findet jeden Tag bis in den Nachmittag statt und auch der Samstag morgen kann ein Schultag sein.
Während Deutschland auf Platz 5 des Lebensstandards (nach Human Development Index) ist, befindet sich Frankreich auf Platz 20! Die Immobilienpreise v.a. in Paris sind eine Katastrophe und verringern die Konsumbereitschaft und den daraus folgenden wirtschaftlichen Auftrieb immer mehr. Während ein 9m² Zimmer in Paris im 6.Stock ohne Fahrstuhl mit Küchenzeile und Toilette auf dem Gang 300€ kostet, ernsthafte Wohnung für 2 Personen ab 1500€ + 100€ Parkplatzgebühren zu haben sind, die Einkäufe und Dienstleistungen manchmal das doppelte als in Deutschland kosten, kann man sich in Deutschland hingegen viel für sein Geld erlauben. Deutschland gilt in Frankreich aber auch als DAS Vorbild von Politik und hat ein unglaubliches Ansehen in wirtschaftlicher Hinsicht. Hier in der Region ist das Leben noch nicht einmal schön. Um an schöne Felder und Flüsse zu kommen, muss man einen Tagesausflug mit der Bahn einplanen, in der Umgebung ist neben Schloss und Kultur viel zu viel verbaut. Die Nähe zur Ruhr fehlte mir in den letzten Monaten besonders, aber dafür bin ich in einer halben Stunde per Rad am Arc de Triomphe und per Fuß in 10 Minuten an der Seine (Vorortseite).  In Paris lebt man zum arbeiten, nicht zum genießen. Der RER B beispielsweise; ein Schrecken der Pariser. Die mitunter dreißigjahre alten Züge durchfahren von Nord nach Süd die ganze Region, inklusive zweier Flughäfen. 860 0000 Fahrgäste nehmen täglich 528 Züge der Linie in Anspruch um teilweise von Zone 5 bis ins ins echte Paris zu kommen. Wenn irgendwo im Netz eine Bahn bremst, bleiben alle anderen auch still. Wenn ein Bahnfahrer erkrankt, fällt die Bahn aus. Und auch sonst führen Streiks, Bauarbeiten und Unfälle auf den Gleisen zu vielen Streichungen der Züge. Morgens in der Bahn noch einmal schlafen ist nicht. Stattdessen ist langes Stehen zwischen den Massen angesagt und wer davon nicht genug hat, darf sich auch noch über einen breitgrinsenden Akkordeonspieler freuen, der dir gerade recht kommt um dir die letzte Morgenruhe aus dem Kopf zu treiben. In Paris endlich angekommen, darf man dann in dem absoluten Lieblingsort der Pariser um- oder bestenfalls aussteigen; Station Chatelet Les Halles. Das sind Gänge über Gänge, Rollbänder, Werbeplakate und Treppen. Man verbringt bis zu 10 Minuten in dem Keller ohne einmal das Licht der Stadt erblickt zu haben. Die immense Station liegt im wirklichen Herzen von Paris (1.Arrondissement) unter dem historischen Marktplatz, welcher in einem Jahrzehntprojekt zum neuen Einkaufszentrum und Mittelpunkt der Stadt regeneriert wird. Chatelet Les Halles wird täglich schätzungsweise von 750 000 Passagieren frequentiert und ist damit so häufig besucht wie der Berliner -  und Hamburgerbahnhof zusammen. Hauptstadtleben. 2,2 Millionen Einwohner teilen sich mit 10, 4 Einwohnern im Großraum und jährlichen 76 Millionen Touristen (Tourismusziel Nr 1 weltweit) ein Paris von 105km² Fläche. Kein Wunder, dass da kein Pariser vor die Haustür gehen mag. Pariser kennen ihr Quartier bestens, aber nichts darüber hinaus. Daher überleben hier auch noch die kleinen Supermärkte um die Ecke. Für die großen Megamärkte (à la Real), müsste man Paris verlassen um über die Autobahn aufs Land zu kommen. Die Autobahn zu überqueren würde ein Pariser aber nie tun, außer um mit seinen ganzen Nachbarn pünktlich zum Beginn der Sommerferien im Schritttempo ans Meer zu fahren. Denn die Autobahn, der Boulevard Périphérique, ist die perfekte Grenze zwischen Paris "intra-muros " und dem Möchtegern Anhang "extra-muros"  bzw. Banlieue. Auf der „Périph“ verkehren täglich 1,1 Millionen Autos auf einer Strecke von 35km (zum Vergleich: auf der meistbefahrensten  Autobahn im Ruhrgebiet,  der A40, 103km Länge, fahren täglich 120 000 Autos). Das ist doch gar nicht möglich, werden sich vielleicht einige Denken. Ist es auch nicht. Am Wochenende des 15. März erreichte der Smogpegel hier in Paris ein derartiges Höchstmaß, dass die Regierung abwechselndes Fahrverbot und kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel erlassen hat. Von letzterem haben wir natürlich profitiert auch wenn wir uns lieber auf dem Land oder Zuhause hätten aufhalten sollen. Denn die Anzahl der Feinstaubpartikel betrug schon ein vierfaches der Norm. 
Über die Armut habe ich schon ein wenig berichtet. Die Situation in Deutschland ist ein Luxus. Mein Kollege Niklas (in einer Schule für geflüchtete Jugendliche) erzählt, dass die Jugendlichen von Deutschen erwarten, dass jeder reich sei und ein Haus habe. Manche lernen sogar Deutsch um eines Tages in diesem "Paradies" leben zu können. In Paris leben wirklich viele Leute auf der Straße, das Klientel welches uns im Centre besucht, hat meist ein kleines Zimmer oder eine kleine Wohnung. Ich frage mich oft, welches das beste Konzept für uns sei, um den Bedürftigen auf eine würdige und hilfreiche Art zu helfen. In Paris gibt es eine evangelische Mission, die ein kostenloses Frühstück und Duschen für Obdachlose anbietet, nachdem sie eine Andacht gehalten haben. Ich finde dies eine tolle Missionierung, in Betrachtung der Anzahl der hilfsbedürftigen Muslime jedoch keine Lösung. Resto du Coeur hat genug genug materielle und humane Ressourcen um für 1-2 Tage den Hunger zu stillen. Der Andrang ist aber zu hoch um zwischen dem Sandwich schmieren ein Schwätzchen halten zu können. Gleiches gilt für unserer Braderien (Kleidungsverkäufe) wir helfen zwar den Leuten sehr günstig an gute Kleidung zu kommen, das Klima ist aber Supermarkt. Die Kleidermengen sind einfach zu enorm um den Rahmen kleiner zu halten. Bei dem Empfang der Obdachlosen in unserem Gemeindefoyer fehlt es uns eigentlich an allem. Wir haben nicht genug Essen und die Kleiderreste der Braderie reichen nicht aus oder sind dreckiger als die Klamotten der Klienten. Dann spielen wir noch Scrabble. Aber wir schauen nicht, welche Ressourcen wir stattdessen einsetzten können. Wo wir vielleicht vielmehr helfen könnten. Denn neben materiellen Ressourcen steht jedem von uns ein Haufen personeller Ressourcen zur Verfügung, die wir übers Scrabble spielen hinaus einsetzen und dadurch persönlicher werden könnten.
Normalerweise, so sagte mir mein Pastor neulich, ist das Problem bei armen Leuten ihre Krankheit. Ihre Depressionen und Süchte, die meist einen familiären Hintergrund haben, behindern sie, klar zu denken und zu sparsamen Konsummustern sowie gesellschaftlichem Benehmen zurück zu finden. Im Klartext: die Lösung des Problems liegt oft gar nicht im Materiellen. Sondern vielmehr in Beraten & Beglücken. Es gibt viele Klienten, die ein ausreichendes Geld vom Staat bekommen aber aus fehlendem Wissen oder mangelnder Kraft damit nicht haushalten können. Resto du Coeur ist unabdingbar, da nun mal eine Sättigung ein wichtiges Grundbedürfnis darstellt. Dennoch ist es damit längst nicht getan. Eine wichtige Rolle in Frankreich spielen Sozialarbeiter. Sie schauen sich mit dem Klienten die Finanzen an oder leiten ihn an alle möglichen Anlaufstellen von Kleidung bis zu Jobs weiter. Leider sind deren Leitungen meist besetzt und die Posten unterbesetzt, aber die Beratung ist maßgeschneidert Person für Person.
Beglücken tut das Centre regelmäßig mit seinen Konzerten und Events wie das Suppenfest. Auch wenn ich diese Kategorie zunächst für zweitrangig gehalten habe, da die essentiellen Dinge höhere Priorität haben, so wird mir doch die Bedeutung der Veranstaltungen mehr und mehr bewusst. Zu den Veranstaltungen kommen ehrlich gesagt selten Obdachlose. Neulich ist ein Klient vom wöchentlichen Empfang gekommen, dem wir zuvor für diesen Anlass einen Sakko geschenkt haben. Die Zielgruppe dieser Veranstaltungen sind alle, die ein bisschen Ablenkung ihres Alltags, ihrer Gedanken und Sorgen haben wollen und etwas Gemeinschaft suchen. Wahrscheinlich sind zu dieser Zeit auch viele Hilfsbedürftige beschäftigt, ein Nachtquartier zu suchen, aber ich glaube Beglücken sollte ein größerer Schwerpunkt sein und als Weg hervorgehoben werden, um eine gute Obdachlosenarbeit zu leisten. Letzten Montag kam zu unserem Obdachlosenempfang ein ehemaliger Flötist des Orchestre de Paris. Für mich war dies eine riesige Ehre. Er hat uns ein kleines Konzert gegeben, von Peter und der Wolf bis zu Mozart. Ich glaube die Klienten hat das relativ wenig interessiert, vielleicht mögen sie einfach keine Flöte.
In dem Gedränge und Bemängel ist es schwer immer gute Miene zu halten und auch noch ein aufmunterndes Wort zu finden. Es ist leicht, einen Haufen Sandwiches zu schmieren oder Hosen zu stapeln. Aber diese ungreifbare Ebene, die auf eine viel entferntere Absicht abzielt, den Klienten zu ermuntern und zu ermutigen, die müssen wir alle nochmal ganz neu lernen. Denn wer soll sie ermutigen wenn nicht wir. Einer unserer Klienten kommt seit Jahren fast jeden Montag zu unserem Empfang. Er hat bestimmt schon 100 Hosen von uns bekommen aber geben sie ihm die Motivation sich zu waschen, zu kochen oder Arbeit zu suchen?
Im Übrigen:
Am 6. April hat der klassische Chor, den ich seit der zweiten Woche in Frankreich besuche, ein tolles Konzert gegeben. In Vorbereitung auf Ostern haben wir „Die 7 letzten Worte Jesu am Kreuze“ von Hadyn aufgeführt und Standing Ovations geerntet. Wir haben uns Monate mit dem Werk herum gequält weil es für Amateure wie wir wirklich schwer zu singen ist. Ich hatte nicht nur Schwierigkeiten mit den Noten, sondern auch mit dem Stück an sich. Es erklärt sich nicht beim ersten hören. Einmal verstanden gehört es aber zu den schönsten Errungenschaften der Musikgeschichte. Die Texte und Melodien sind unglaublich wertvoll und geistreich, sodass es am Ende eine große Entdeckung für mich war. Der Dirigent wollte das Konzert eigentlich absagen, weil wir uns lächerlich machen würden. Am Ende haben wir aber mit dem Orchester und den Solisten eine gute Aufführung abgeliefert, die für uns alle ein erinnerungswürdiges Erlebnis war.



Eine Woche später bin ich dann mit allen Pfadfindern unseres Stammes für vier Tage auf ein Camp gefahren. Nur eine Stunde von Paris entfernt gibt es einen Wald für Pfadfinder mit vorbereiteten Baumstämmen zum Bauen, Toiletten und einer Bäckerei.
Wir waren um die 70 Leute und haben unter strahlender Sonne Tische gebaut, Feuer gemacht und gespielt. Die Kinder und Jugendlichen bereiten mir sehr viel Freude und es ist immer sehr lustig mit ihnen.





Letzte Woche habe ich dann mit Christoph die Mitfreiwillige Johanna in Grenoble (Partnerstadt von Essen) besucht. Wenn die Verschmutzung auch die gleiche ist, so haben wir natürlich einen absoluten Kontrast zu Paris erlebt. Berge und Wiesen so weit das Auge reicht! Wir haben eine ganz tolle Zeit gehabt!
Ansonsten ist hier noch sehr viel in Vorbereitung, dessen Ergebnisse ich erst beim nächsten Rundbrief entlüften kann.



Bis dahin, alles Gute!
Euer Gabriel



Sonntag, 30. März 2014

Gabriel en noir


Das Event liegt schon einen Monat zurück. Ich habe aber jetzt erst alle Fotos beisammen um davon kurz berichten zu können. Unter den vielen Kleiderspenden, die jedes Jahr zusammen kommen, gibt es auch viele ausgefallene und thematische Kleidungsstücke. Jedes Jahr werden Kleidungsstücke zurück gelegt um daraus Kostüme für eine Modenschau zumachen. Jede Modenschau hat eine Thema und wird wie ein Musical mit einer kleinen Handlung und Musik ausgeschmückt, dieses Jahr mit der Geschichte vom Jazz. Ich wollte bei diesem Tralala eigentlich garnicht mitmachen, aber da die Kleiderkammer dies von mir sehr stark zu erwarten schien, habe ich dann doch noch eine Nummer gefunden, bei der ich mitmachen konnte. Während alle stummen Nummern von einem begabten Pianisten begleitet wurden, sind alle Gesangsstücke vom Band abgespielt worden, bis auf der Sklavenchor, der "Joshua fit the battle of Jericho" zum besten gab. Dort habe ich also meinen Senf dazu gegeben und ein Solo gesungen. Ich fand es eigentlich furchtbar. Niemand konnte im Takt klatschen und ein freier Gospel wurde auch nicht verkörpert. Ich habe mich aber natürlich voll ins Zeug gelegt und wie man mir nachher sagte, die Nummer deutlich aufgewertet. Später habe ich noch einen Barkeeper gespielt, daher die Weste.

Vor einer Woche sind 2 Freundinnen aus Deutschland gekommen, mit denen ich eine gute Zeit hatte, besonders sei hier der Ausflug ins Disneyland zu erwähnen!


Die Woche war auch bei mir sehr voll. Am heutigen Sonntag hat mein Chor gestartet, ich habe einen Gottesdienst am Klavier begleitet und auch später den Abendgottesdienst mit der Band unterstützt. Leider waren in beiden Gruppen nicht viele Leute anwesend, aber das will ich mal auf die Uhrumstellung schieben. Deutlich zeigt sich aber, dass auch wenn ich für 4 verschiedene Branchen arbeite, mich doch zu dem Organ Kirche mit ihren Mitgliedern am meisten zugehörig fühle und mich dort am besten einbringen kann.
Schöne Wöche euch!





Donnerstag, 13. März 2014

Einen Apfelbaum pflanzen : check! und Lebensmittelschweinereien

Der Busfahrer hat nicht schlecht gegrinst, als ich mit einem Baum im Hackentretter vom LIDL zum Centre gefahren bin, doch kann ich nun stolz ein Lebensziel abhacken; ich habe ich einen Apfelbaum gepflanzt.
Auf den Tipp meiner Marmeladen-Vorgängerin hin, bin ich zum Supermarkt um die Ecke gegangen, um nach unverkaufbaren Früchten zufragen und habe tatsächlich 10 (!) Ananas kostenlos erhalten, die außen leicht schimmelten, innen aber noch süß und super gut waren.
Auf der einen Seite war ich zwar begeistert über diese Möglichkeit, kostenlos an meine Zutaten zukommen, auf der anderen Seite war ich aber enttäuscht, dass in einer Stadt wo Leute so stark an Hunger leiden, die Lebensmittel dennoch weggeschmissen werden. Bei Resto du Coeur [nationale Tafel] ist das leider nicht anders. Seitdem ein Hilfsbedürftiger die Hilfsorganisation verklagt hat, nachdem er aufgrund eines vergammelten Produktes krank geworden ist, muss Resto du Coeur alle ausgegebenen Produkte frisch kaufen, bzw. nur unverderbliches anbieten. Tatsächlich habe ich bei meiner Ausgabe auch sehr viel Dosen wie Ravioli und Erbsen ausgegeben. Resto du Coeur kauft aber nicht alles ein, es gibt sog. Essensbänke. Der Kunde im Supermarkt macht seine Einkäufe und kann davon Produkte für Resto du Coeur abgegen, die dort gelagert und dann von Resto du Coeur abgeholt werden. Ich finde dass eine Frechheit. Zwar Dank an all die Kunden die gerne geben, aber die Supermärkte machen damit noch ein größeres Geschäft und werben sogar mit ihrer tollen Beteiligung gegen den Hunger, anstatt deren Lebensmittelüberfluss sinnvoll zu verwerten. Aber natürlich können auch die Supermärkte nichts dafür. Sogar wirklich nicht. Tatsächlich sind es die Konzerne, die auf das tagesgleich produzierte Fleisch für Frankreich ein dreiwochen kürzeres Mindesthaltbarkeitsdatum setzen als für die afrikanischen Länder. Die ehrbare Regierung gebietet dem Supermarkt, nichts ausgeben zu dürfen was das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits überschritten hat und so landet dann doch viel zuviel in der Tonne. Lediglich bei den Bäckern kann ich für unseren Empfang in der Gemeinde, als auch Resto du Coeur für die Abendspeisung, älteres Brot ergatten.

Zurück zur Konfitüre. Der Supermarkt wird mir jetzt immer Früchte zur Seite legen und so bekam ich gestern 3 Säcke mit Äpfeln.
Sonntag war neben einem erfolgreichen Tag mit den Pfadfindern (ich habe einer Gruppe den türkischen Bund und das Basteln einer Kazou beigebracht) der erste Abendgottesdienst unserer Gemeinde und der erste Auftritt meiner Band! Ich hatte 3 super Musikerinnen an meiner Seite, die sich wirklich gut vorbereitet hatten. Das war also gar kein Problem!

Abschließend zum Baum. Schon zu Beginn meines Jahres in Frankreich hatte ich mir vorgenommen, den Garten in dem ich das Unkraut jäte, mit etwas zu bepflanzen, was man auch in der Erde lassen kann. Als nun der März gekommen war (eigentlich war es schon zu spät weil der Frühling direkt mitgekommen ist), habe ich gefragt ob wir Blumenerde o.ä. haben. Nichts war vorhanden und so hat man mir ein Budget gegeben, von dem ich mir kaufen konnte, was ich wollte um den Garten zu verschönen. So bin ich einmal mit ein paar Rotfruchtsträuchern, Samen und Blümchen auf dem Gepäckträger und in zweites Mal mit Hackentretter und Bus zum Jugendhaus der Gemeinde gefahren und habe gleich alles eingepflanzt. Ich bin sehr gespannt, ob sich in 1-2 Monaten dort etwas zeigt! In jedem Fall ist der zunächst hoffnungslos-verloren gewesene Garten jetzt Mein Garten und ein Ort wo ich noch viel Arbeit rein stecken werde.

Anbei noch das Album einer Fahrradtour von Colombes nach Conflons-Sainte-Honorine, einer kleinen Hafenstadt, die mich ein wenig das wahre Bild von Frankreich erahnen lässt.
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Montag, 3. März 2014

Der Chorbesuch und andere Zeichen von Gemeinschaft 2. Rundbrief

Für Franzosen bedeutet Demokratie, dass jeder tun kann was er will“, sagte mir neulich eine Kollegin über ihr Volk. Ich musste lachen. Wie wahr. Zugegebenermaßen ist es aber genau jenes Missverständnis von Freiheit, welches ich als liebenswürdigen Mode de vie der Franzosen aufgefasst und nicht selten nachgeahmt habe. Im Prinzip ist es ja auch garnicht so verkehrt, die Dinge etwas weniger ernst zu nehmen. Ich bin aber auch nicht der, dem ein Fahrradfahrer in der Einbahnstraße entgegenkommt, der anhalten muss um die Fußgänger über rot laufen zu lassen, der auf seine Verabredung warten oder den falsch getrennten Müll der anderen sortieren muss. Mich stört das nicht. Ich bin aber auch der andere. Ich kann an dieser unseriösen Lebensart also nur Gefallen finden.
In der Tat bin ich schon zweimal als Geisterfahrer in der Einbahnstraße einem Polizeiauto entgegen gefahren ohne angehalten zu werden, auch beim Über-rot-laufen muss man sich nicht vorher der reinen Luft vergewissern. Schwarzfahrer gibt es hier en masse und für den Fall des Falles sogar eine Versicherung. Parken muss auch nicht geübt sein, solange die geknautschten Autos Franzosen gehören, die nicht nur Stoßstangen als Gebrauchsgegenstand verstehen.

Das Leben als Franzose ist für mich normal geworden wie der Käse zum Wein. Ich liebe meine Vorstadt. Hier genießt man noch Gemeinschaftsgefühl und Höflichkeit. Oft begegne ich Bekannten aus der Gemeinde, dem Chor oder der Pfadfinderei, aber selbst viele Obdachlose erkennen mich durch die Arbeit im Centre oder von Resto du Coeur. Manche kenne ich schon mit Namen und führe Small Talk. Darunter auch Monsieur Martin, der übrigens seine Gitarre wieder hat. Die Arbeit bei Resto du Coeur, die ich im letzten Rundbrief angekündigt habe, ist immer noch sehr wichtig für mich. Zwar habe ich die morgendliche Lebensmittelausgabe aufgegeben weil sie gut und alt besetzt ist, widme mich aber stattdessen der Speisung am Abend bis in die Nacht (18 30 – 22). Auch hier erlebe ich oft sehr solidarische und gemeinschaftliche Klienten.


Desweiteren habe ich auch mein Wirken im Centre 72 ausbauen können.
Letztes Jahr habe ich in der Pfadfinderei eher eine Mithelfer Funktion ausgeübt und konnte die Auffassung meiner Kollegen nicht teilen, ein Lehrer für die Jugendlichen zu sein. Nach Diskussionen und vielen Vorschlägen, habe ich mich aber durchsetzen können, aktiver Gestalter des Nachmittagprogrammes zu sein, was den Jugendlichen viel Spaß bereitet. Wir handeln nun als Verantwortliche einen guten Kompromiss zwischen Pädagogik und Spiel aus.
Nachdem eine Ehrenamtliche aus dem Centre das Kochen von über 200 Marmeladen für den jährlichen Weihnachtsmarkt aufgegeben hat, bin ich begeistert davon, diese Aufgabe übernehmen zu dürfen. Mir macht das unglaublich viel Spaß und es tut gut, neben so viel Beziehungsarbeit auch etwas materiell-produktives zu leisten.
Musikalisch sind auch neue Projekte am Start; Mit der Groupe Jeunes (den Jugendlichen zwischen 15-18 Jahren), gestalte ich einmal im Monat die Musik im neuen Abendgottesdienst unserer Gemeinde. Wir sind eine Band bestehend aus Klavier, Violine, Flöte und Gitarre mit einigen Sängern und singen jüngere Lieder des Liederbuches. Außerdem suche ich gerade einige SängerInnen für einen Projektchor zusammen, der am Ende des Schuljahres seinen Auftritt im Gottesdienst haben wird.

Das musikalisch und auch in anderen Bereichen größtes Ereignis war aber mit Abstand der Besuch meines Schulchors des ehemaligen Gymnasiums in Essen. Schon als ich letztes Jahr dem Chor angekündigt hatte, im folgenden Jahr aufgrund des Auslandsaufenthaltes nicht mehr im Chor mitsingen zu können, hatte meine Chorleiterin sofort die Idee ergriffen, mich mit dem Chor besuchen zu kommen und in der Gemeinde zu singen. Und so kam es, dass ich am letzten Februar Wochenende tatsächlich 12 (z. T. ehemalige) SchülerInnen, Eltern und unsere Leiterin in den Arm nehmen konnte. Immer als ganze Gruppe zusammen, haben wir 2 Tage lang in einer unglaublich freundschaftlichen und lustigen Atmosphäre die Stadt erkundigt und überall gesungen;


Mit der Gitarre sangen wir an der Haltestelle, in der Bahn, am Eiffelturm, am Weinberg vom Sacré Coeur und mit Klavier am Bahnhof. Das eigentliche Konzert fand aber in meiner Gemeinde während dem Gottesdienst statt. In dem normalen Gottesdienstablauf eingebettet, haben wir von Beatles bis Rutter einige wunderschöne Lieder dargeboten und viel Dank von den Besuchern geerntet. Selbst ein französisches Lied haben die Mädchen vorgetragen und wenn ich für mich sprechen kann, war es sehr berührend. 

Ein sehr besonderer Moment in dem Gottesdienst war aber das Abendmahl. Wie es immer üblich bei uns ist, machen wir als Gemeinde einen großen Kreis und brechen ein Baguettestück für den nächsten ab, sagen dabei bspw. „Jesus sei mit dir“ und trinken aus einem Weinkelch. An jenem Sonntag waren wir nun ein riesiger Kreis aus Deutschen und Franzosen, die in Namen Jesu versammelt waren und gemeinsam am Abendmahl teilnahmen. Das war für mich ein besonderes Zeichen deutsch-französischer Freundschaft und von Willkommensein in einer anderen Kultur.

Währenddessen hat Julius aus dem Chor einen wunderschönen Choral von Fauré auf dem Klavier gespielt und wir haben als Chor den Gottesdienst mit dem priesterlichen Segen in einer Komposition von John Rutter abgeschlossen. Für die Gemeinde als auch für mich hat dieser ereignisreiche Tag einen absoluten Höhepunkt in meinem Freiwilligendienst markiert.




Eine Empfindung toller Gemeinschaft hatte ich auch eine Woche zuvor während unseres Zwischenseminars in Tallinn erlebt. Bevor wir Freiwilligen aus Europa uns alle in Estland getroffen haben, war ich mit dem Zug nach England gefahren um den Mitfreiwilligen Daniel im Kloster auf dem Land zu besuchen. In einer rein natürlichen Umgebung haben wir zusammen an einem Zaun gearbeitet und ich habe in der sehr gastfreundlichen Brüderschaft zwei erholsame Tage genossen. Anschließend sind wir zu einem weiteren Freiwilligen nach London gefahren und zwei Tage später zusammen nach Tallinn geflogen. Neben dem gemeinsamen Austausch über unsere Projekte, unsere Ziele und Erlebnisse, haben wir natürlich viel gespielt, gelacht und gesungen. Die Zeit mit den anderen Freiwilligen war großartig und die Mittelalterstadt Tallinn ist ein spezieller Aufenthaltsort für uns gewesen.




Mit Christoph und Niklas durch die Stadt zu tingeln bleibt weiterhin ein großer Spaß und insbesondere für die letzte Hälfte habe ich mir vorgenommen, alles rauszuholen was ich aus der Freundschaft, der Stadt und dem Jahr profitieren kann. Es ist ein gutes Jahr und eine tolle Zeit.
Ich bedanke mich sehr dafür bei allen, die dies tragen und mich in dem Jahr begleiten!
Es tut mir Leid für die lange Pause, ich werde in Zukunft wieder mehr posten.

Tschüss,
Euer Gabriel



Samstag, 30. November 2013

Erster Rundbrief

Hier ein offizieller Rundbrief, der das erste Trimester meines Jahres zusammenfassen soll. Viel Spaß beim lesen.

Nicht jeder Tag im Büro des Centre 72 birgt eine spannendes Ereignis in sich. Häufig sind es sogar nur Kleiderspenden und Anrufe, die die Zeit am Empfang ausfüllen. An manchen Tagen geschehen aber auch die schönen sinngebenden Momente unserer karitativen Arbeit...

Seit 3 Monaten lebe ich nun bei einer überaus freundlichen Gastfamilie in Colombes, mit dem Zug 11 Minuten von Paris entfernt. Meine Arbeitsstelle ist das Centre 72 in Bois-Colombes, ein gemeinnütziges Zentrum, welches neben einer protestantischen Kirche viele wöchentliche Freizeitangebote (u.a. Yoga, Gitarre..), monatliche Ereignisse und auch eine karitative Arbeit beherbergt.
Meine Woche beginnt mit dem Empfang von Obdachlosen in unserem Foyer. Wir bieten Kaffee und Sandwichs an, geben Kleiderspenden aus, kommen ins Gespräch und spielen häufig Scrabble. Weiter in der Woche geht es mit der Gartenarbeit und an mehreren Tagen Empfangsarbeit im Büro. Die Woche endet dann am Sonntag mit meinem regelmäßigen Musikdienst im Gottesdienst oder dem monatlichen Abenteuertag mit den Pfadfindern.
Dazwischen: Besprechungen, Bestuhlungen und Vorbereitungen kleinerer und größerer Veranstaltungen. Als überall bekannte Veranstaltung in Bois-Colombes und Umgebung gilt die beliebte Braderie ( = Verkauf zu Spottpreisen). Ein Großereignis, das nur durch die beeindruckende Leistung der ehrenamtlichen Helfern zustande gebracht werden kann. 1-2 Tage Aufbau, 2 Tage Verkauf, Abbau - und das alle zwei Monate. Täglich erreichen uns Säcke mit Kleider-, Bücher-, Kleinmöbel-, und Spielwarenspenden, die von unbezahlten Kräften stundenlang sortiert und gelagert werden. Aus diesen Kleiderspenden bedienen wir neben den Klienten am Montag auch zwei mal die Woche Arbeitslose. Der Großteil wird aber für die Braderien aufgehoben, an denen ein Hemd bspw. nur 1€ kostet und deren Erlös ebenfalls einen wohltätigem Zweck zufällt. In der Boutique bekommt man auch schon mal einen Anzug für 10€, der neu im Geschäft 500€ gekostet hätte. Dieses Beispiel zeigt auf einfache Weise die große soziale Ungleichheit im Großraum Paris auf. Sei es der BMW X6 oder sogar ein Taxi, das vor dem Centre vorfährt und wertvolle, teils neue Kleiderspenden abliefert, die später im Hackendretter zum neuen Besitzer gebracht werden, seien es die Heimatlosen, die neben Pariser Prunkpalästen oder am Ufer der Seine ihr Notquartier errichten – hier klafft die soziale Schere weiter auseinander als die Vorstellungen der Großen Koalition.
Sich beim Unkraut jäten oder Kleider falten als Teil einer Wohltätigkeitskette zu verstehen ist gar nicht immer so einfach. Manchmal vergingen Tage im Büro, an denen nichts des Protokolls würdig gewesen ist und ich mich fragte, was ich hier eigentlich mache.
Als eines Nachmittags Monsieur Martin unser Büro betrat, sollte sich meine Einstellung zu unserer Präsenz aber fundamental verändern. Am besagten Nachmittag habe ich aufgrund meiner mangelnden Sprachkenntnisse noch den Empfang mit einer Dame zusammen verbracht, als ein völlig aufgelöster Mann sich vor unseren Schreibtisch setzt. Er gibt sich als Monsieur Martin aus, der sich als Straßenmusiker in meiner Stadt das Geld verdiente und ruhelos berichtet, wie ihm seine beiden Gitarren gestohlen wurden und ihm somit sein einziges Arbeitsmittel verloren gegangen ist. Nicht zuletzt seine gesungene Kostprobe einer seiner Komposition lässt uns dem Betroffenem Glauben schenken und wir schenken M. Martin ein Ohr, als er uns die mangelnde Obdachlosenhilfe in den Vororten schildert. Als wir dem Unglücksmenschen Pflegemittel und eine große Jacke aus der Kleiderkammer anbieten können, probiert M. Martin diese sofort an und scheint sich darin sehr wohl zu fühlen. Er ist zutiefst dankbar und sichtlich erfreut über dieses Geschenk. Wir sind gerührt. Nicht immer haben wir es bei unserer Arbeit mit netten oder dankbaren Menschen zu tun. Dieses mal aber hat sich gezeigt, warum es sich lohnen kann stundenlang ohne ein Merci Kleider zu sortieren oder einfach nur präsent zu sein. In solchen Momenten ergibt der ganze Aufwand einen Sinn und die Stunden der größten Langeweile oder harten Arbeit entpuppen sich als Standfüße für den Dienst am Nächsten.
Tage später sehe ich M. Martin zitternd auf einer Bank in Colombes. Mit Mantel, ohne Gitarre.
„Keine Dusche, kein Essen, kein Schlafplatz.“, hatte M. Martin uns bei seinem Besuch erzählt.
„Können Sie nicht bei einer Assoziation in Colombes eine Mahlzeit erhalten?“.
„Da wartet man 2 Stunden auf ein kleines Stück Baguette und Reis!“, hatte der Heimatlose meiner Kollegin aufgewühlt zur Antwort gegeben.
Menschen wie M. Martin sieht man stündlich. Bettelnd vor Kirchen, in Zügen, an Metro Stationen, mit ihren Kindern auf der Straße. Ich hatte mir angewöhnt, diesen vielen Einzelschicksalen keine Beachtung zu schenken. Das Schicksal von M. Martin hat mir aber aufgezeigt, was es bedeutet obdachlos zu sein. Auch wenn in Frankreich ein Recht auf Wohnung und das Recht auf Arbeitslosengeld besteht, fehlt es praktisch im Großraum Paris überall an Kapazitäten um den Flüchtlingsanstürmen und Arbeitslosenmassen stand zu halten. Seit M. Martin weiß ich, dass es sich lohnt, für jeden Einzelnen einen Dienst gegen die Armut zu tätigen. Auch wenn die Armut dadurch nie gestoppt werden kann, so ist es dennoch unabdingbar, den Versuch zu wagen, so viele Menschen wie möglich zu sättigen. Viele Assoziation und ehrenamtliche Helfer haben sich dies im Großraum Paris zum Ziel genommen. Eine dieser Assoziation nennt sich „Restos du coeur“, eine Art Tafel, bei der ich seit Ende November mitarbeite. Morgens werden dort Lebensmittel ausgegeben, abends fährt ein Transporter den Bahnhof der Stadt an und wir freiwilligen schmieren Sandwichs und schenken Suppe und Getränke aus. Diese Arbeit macht mir sehr viel Spaß und es ist ein tolles Gefühl auf so unmittelbare Weise den Bedürftigen helfen zu können.

Neben dem Schatten der Armut, der über Paris und seinen Vororten liegt, habe ich aber ansonsten natürlich nicht nur Trauer zu berichten. Ich habe bereits einem großem Filmkomponisten die Hand geschüttelt, allerhand Konzerte und Museen besucht und kann von Paris in dieser Hinsicht nur schwärmen. Ich habe in Paris eine baptistische Gemeinde gefunden, in der auch ersatzweise als Pianist aushelfe und habe dort Bekanntschaften mit neuen Freunden aus Texas, Brasilien und Irland gemacht. Die Diskussionen über die verschiedenen Kulturen (besonders Deutschland fällt leider meistens aus dem Rahmen) ist immer ein Riesenspaß. Mit den zwei weiteren deutschen Freiwilligen aus dem Großraum Paris Niklas und Christoph setzen wir uns in einen Park, fahren mit der Metro und beobachten das Treiben der Touristen, während wir uns über den Alltag der letzten Woche austauschen und die französische Lebensart kommentieren. Bis auf die Bierpreise kann man sich hier aber über nichts beklagen.

Ich danke Euch allen für Eure Unterstützung und Ermöglichung dieses bisher schon großartigen Erfahrung,

Euer Gabriel


Mittwoch, 13. November 2013

5. fête de la soupe

Letzten Samstag fand das 5. alljährliche Suppenfest im Centre statt. Sei es die Gemeinschaftspolitik der Vororte oder einfach die Essensmentalität der Franzosen - so etwas habe ich noch nie erlebt! Das Prinzip ist einfach: Jeder der will, bringt eine selbst gekochte Suppe mit, die er über aufgebauten Gaskochern im Innenhof erwärmen kann. Diese schenkt er dann an alle aus, die einmalig für wenige Euros eine Tasse am Eingang gekauft haben. Ein einzigartiges Nachbarschaftsfest. Über 300 Leute aus Bois-Colombes und den angrenzenden Städten sind zum Suppen probieren her gekommen und haben bei Musik, Lagerfeuer und warmer Suppe das Gespräch mit Nachbarn und Freunden gesucht, Rezepte ausgetauscht (Kürbis-Roquefort-Suppe war eindeutig die beste) und das anschließende Musikprogramm im Haus genossen. Dabei wurden wir sogar von den Rathäusern zwei Städte mit aufgebauten Zelten und verliehenen Bänken kostenlos unterstützt. Es mag an der geringeren Einwohnerzahl liegen oder dem noch geringeren Unterhaltungsangebot, aber das Centre ist im ganzen Umkreis als Freizeitort bekannt und wir arbeiten sehr gut mit den Bürgermeistern zusammen. Auch ich bin bei diesem Ereignis natürlich nicht untätig gewesen. Wie so oft bin ich zunächst dafür verantwortlich, beim Rathaus unsere Plakate abzuholen und sie dann möglichst vielen Läden aufzuhängen, dabei immer wieder den gleichen Satz abspulend "Bonjour. Est-ce que je peux accrocher des affiches, s'il vous plaît?". Nach einer voherigen réunion (= Versammlung [in Frankreich muss alles ausführlich besprochen werden]), empfange ich am Vortag des Ereignisses die Arbeiter, die das gestiftete Zelt mitbringen und erkläre ihnen wo es aufgebaut werden soll und arbeite dann schließlich mit dem Komitee des Centre insgesamt 14 Stunden am Tag des Ereignisses an der Vor- und Nachbereitung sowie dem Ausschank der Suppen und dem Fotomachen. Für eine völlig unkommerzielle Assoziation stellt das Centre wirklich beeindruckende Spektakel und gemeinnützige Aktionen (bspw. Braderie) auf die Beine und ich bin froh, an solchen Tagen mit einer Vielzahl von ehrenamtlichen Helfern rechnen zu können.